Kreatives Schreiben

Der Ansatz „Wege zu Schrift und Kultur“ verfolgt das übergreifende Ziel, Kindern und Erwachsenen individuelle Zugänge zu eigenem Fühlen und Denken, zur Welt der Schrift und zu Kulturen der Welt zu eröffnen. Fachlich geht es – vereinfacht ausgedrückt – um die Verbindung von eigenem kreativen Gestalten und der Entwicklung individueller Ideen in Bild und Schrift und Aspekten interkultureller Erziehung.

Die Konzeption von Anregungen zum Freien Schreiben und Gestalten (im Folgenden abgekürzt mit Schreibanregungen) steht im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung einer psychologischen Theorie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in anderem Zusammenhang entwickelt wurde. Es handelt sich hierbei um die genetische Ganzheits- und Gestaltpsychologie der Leipziger Schule, die Friedrich Sander als Begründer der aktualgenetischen Forschung maßgeblich prägte (Sander u.a. 1962). Sander versteht unter Aktualgenese die prozesshaft erlebbare Entstehung von Gestalten im entwickelten Bewusstsein und erhält so ein Modell für zeitlich ausgedehnte emotionale Prozesse, das er auf den Ablauf schöpferischer Prozesse überträgt. Die Entwicklung führt dabei über eine Reihe von Vorgestalten, die die Möglichkeit zu Veränderung in sich tragen.

Gottfried Hausmann- beeinflusst von Friedrich Sander und Mentor von Gabriele Rabkin - betont, dass die in den Vorgestalterlebnissen zum Ausdruck kommende emotionale Verschmolzenheit von Subjektivem und Objektivem eine Vorbedingung dafür ist, dass es überhaupt zu einer Erkenntnis von gegenständlichen Tatsachen kommen kann. Entsprechend der dem Ansatz zugrundeliegenden Bedeutung der Gefühle ist ohne das gefühlsartige Erleben keine Gestaltbildung möglich (Hausmann 1935, S. 320).

Dieser Prozess wird an einem Beispiel deutlicher. Es bezieht sich auf die Kindheitserinnerung eines älteren Erwachsenen:

„Als ich ein Kind war, wurde ich manchmal von meinem Lehrer bestraft. Stundenlang musste ich ganz allein in einem kleinen Raum in der Schule nachsitzen, dem sogenannten Arrestzimmer. In diesem Raum standen so gut wie keine Möbel, aber er hatte Holzdielen mit einer ausgeprägten Maserung.“

Sobald ich in diesen Raum „verbannt“ worden war, setzte ich mich auf den Boden und guckte die Maserung auf dem Holz solange an, bis sich vor meinem „inneren Auge“ eine ganz eigene Welt auftat, eine Welt, die nur mir zugänglich war und die mir niemand nehmen konnte: Die Muster wurden zu verzweigten Straßennetzen, an denen ganze Dörfer entstanden. Je mehr ich mich in diese, meine Phantasiewelt vertiefte, desto vollkommener entwickelten sich meine Landschaften.

Ich hatte dabei außerdem das köstliche Gefühl, meine Lehrer überlistet zu haben; ihre Strafe hatte mir zu einem wunderbaren Spiel verholfen!

In dieser Kindheitserinnerung wird eine emotional stark besetzte Situation beschrieben. Ausgelöst durch eine visuelle Anregung gelingt es dem Erzähler, in eine Phantasiewelt auszuweichen. Die Holzmaserung des Fußbodens, der einzige Reiz in dem sonst kargen Raum, wird Ausgangspunkt für den individuell imaginierten Aufbau einer Landschaft, die sich prozesshaft zu immer weiter ausdifferenzierten Gestalten entwickelt.

Arbeit mit Schreibanregungen – didaktische Vorüberlegungen

Die (oben nur fragmentarisch ausgeführten) Grundüberlegungen der Leipziger Schule bilden bei der Entwicklung der Schreibanregungen wichtige Ausgangspunkte. Durch die Vorgabe einer nur wenig vorstrukturierenden Anregung kann eine gewisse Angst vor dem leeren Blatt überwunden werden. Den Kindern wird zwar etwas angeboten, das ihre Phantasie anregen soll, gleichzeitig aber Raum lässt für die Entwicklung eigener Vorstellungen. Für die Kennzeichnung dieses Kriteriums wurde der Begriff vorgestalthaft aus der Ganzheits- und Gestaltpsychologie übernommen.

Zwei Aspekte sind bei der Arbeit mit den Schreibanregungen besonders wichtig:

  • Der Aspekt der Anregung durch eine Vorgabe
  • Der Aspekt der bewussten Integration von bildnerischem Gestalten und freiem Schreiben während der Arbeit mit Schreibanregungen.

Die Arbeit mit Schreibanregungen soll dazu motivieren, über eine enge Verbindung von bildnerischem Gestalten und anschließendem Schreiben zu einer vorgegebenen Anregung eigene Emotionen zum Ausdruck zu bringen.

Dies zeigt sich in der Ritualisierung einer einfachen Aufgabenstellung, die im Wesentlichen für die Vorgabe aller Schreibanregungen gleich bleibt:

„Male das Bild weiter und schreibe eine Geschichte dazu!“

Indem der Prozess des bildnerischen Gestaltens bewusst an den Anfang gestellt wird, können anfangs noch vage Vorstellungen allmählich konkretisiert werden. Über das Medium Schrift lassen sich anschließend diese Vorstellungen im verlangsamten und verlangsamenden Prozess des Schreibens differenzierter und strukturierter ausformulieren.

Es gibt bewusst keine weiteren Vorgaben für die Bewältigung der Aufgabe. Verbindlich ist lediglich, dass beide Teile (bildnerisches Weitergestalten und das anschließende Schreiben) bearbeitet werden. Was im Einzelnen unter den Formulierungen „weitermalen“ und „eine Geschichte schreiben“ verstanden wird, entscheidet das Kind. Es wird also von Seiten der Unterrichtenden weder Einfluss auf die Ausgestaltung des Bildes noch auf die Textgestaltung genommen.

Eine anschließende Überarbeitung des Textteils auf der formalen Ebene (Rechtschreibung, Grammatik) erfolgt im Anschluss nach den in der jeweiligen Lerngruppe üblichen methodischen und didaktischen Standards.

Entsprechendes gilt für die Präsentation der Ergebnisse. Aufgrund des hohen persönlich und emotional geprägten Anteils sollte diese jedoch stets auf freiwilliger Basis erfolgen.

Zur Entstehungsgeschichte der Schreibanregungen

Einen markanten Ausgangspunkt bildeten Anregungen aus der Bildenden Kunst. Geeignete Vorlagen sind etwa „abstrahierende“ Bilder der klassischen Moderne wie Paul Klee oder Pablo Picasso, die in ihrer dynamischen Offenheit Spielraum für eigene Ausdeutungen lassen. Auch Skizzen klassischer Meister (zum Beispiel Leonardo da Vinci) haben sich durch ihren „unfertig“ erscheinenden Charakter als geeignet zum Weitergestalten erwiesen. Anregende Impulse gehen im Übrigen nicht nur von Kunstwerken aus dem westlichen Kulturkreis aus sondern von Kunstwerken aus aller Welt – so zum Beispiel von den Holzschnitten Katushika Hokusais oder von afrikanischen Skulpturen.

Eine Mappe mit geeigneten Kunstwerken und Anregungen zur Weiterarbeit und Hinweisen für den Unterricht erschien 1992 (Rabkin 1992).

Der vorliegende Fundus der Kinderarbeiten besteht großenteils aus Bildern und Texten, die von Bildender Kunst aus aller Welt ausgehen. Im Laufe des Projekts wurde das Repertoire an Schreibanregungen noch wesentlich erweitert, indem verschiedenste weitere Impulse hinzukamen, die ebenfalls das Kriterium des vorgestalthaften Charakters erfüllten. Oberstes Kriterium ist auch hier, (minimale) Anregungen zu finden, die dazu anregen, eigene, hieran anknüpfende Ideen in Bild und Schrift zu formulieren. Dies können Zufallsstrukturen wie zum Beispiel Klecksbilder sein oder andere Sinneswahrnehmungen aus dem Bereich des Hörens, Riechens, Fühlens oder Schmeckens, sprachliche Anregungen (emotional bedeutsame Wörter oder Themen, Bilderbücher, Gedichte) oder das Gestalten mit geometrischen Elementen (Gestaltung eines Ganzen aus einzelnen Elementen). Entsprechend zu der Arbeit mit den Schreibanregungen aus der Bildenden Kunst werden diese Anregungen zunächst durch das eigene bildnerische Gestalten weiterverarbeitet (Näheres hierzu vgl. Rabkin 2000).

Nachdem Gottfried Hausmann Ende der achtziger Jahre auf erste unterrichtspraktische Erfahrungen der Autorin (seiner ehemaligen Studentin) aufmerksam wurde, erschien mit seiner Unterstützung eine erste Dokumentationsbroschüre, die im Rahmen einer Wanderausstellung der Deutschen UNESCO-Kommission zum Internationalen Jahr der Alphabetisierung 1990 herauskam (Hausmann/Rabkin 1990). In den neunziger Jahren wurden die Schreibanregungen zunächst an einzelnen Schulen, später im Rahmen des Hamburger Projekts „Kreativität, Kultur und Grundbildung - unkonventionelle Wege zu Schrift und Kultur“ an einer größeren Anzahl von Hamburger Schulen über fünf Jahre erprobt. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um den Grundschulbereich, vereinzelt aber auch um die Sekundarstufe I und Einrichtungen der Erwachsenenbildung (insbesondere im Bereich der Erwachsenenalphabetisierung). Die Arbeit mit den Schreibanregungen eignet sich – im Sinne von Inklusion- für alle Schüler*innen, insbesondere auch für Kinder aus sogenanntem schriftfernem Milieu.

Anregungen zum didaktischen Umgang mit den Schreibanregungen wurden im Rahmen von zwei Handreichungen sowie einer Reihe weiterer Publikationen veröffentlicht (Rabkin 1995, 2000).

Im Anschluss an die Erprobungsphase begann die Sammlung entsprechender Kinderarbeiten in aller Welt. Es wurde hierbei großenteils auf private Kontakte zu Kolleg*Innen in aller Welt zurückgegriffen. Insbesondere Helga Arntzen und Gabriele Rabkin bereisten auf eigene Initiative unterschiedliche Länder und trugen die Produkte vor Ort zusammen (zum Beispiel in Russland, China, Israel und Guadeloupe). Auf diesen Reisen konnten wertvolle Kontakte zu Kolleg*Innen in diesen Ländern geknüpft und später vertieft werden.

Ergebnis aus den auf diese Weise zusammengetragenen ca. 3000 Kinderarbeiten bildet das interkulturelle Lesebuch „Fantasien von Kindern aus aller Welt“ (Rabkin u. a. 2001).

Nach Beendigung des Projekts entstanden weitere internationale Zusammenarbeiten - so zum Beispiel in Israel (Kandel/Rabkin 2000 und 2003) und mit tibetischen Flüchtlingskindern in verschiedenen Teilen der Welt (Rabkin …). Wie die Literaturliste verdeutlicht, lag insgesamt ein Schwerpunkt auf der Arbeit mit Flüchtenden und Migranten. Schließlich verdeutlichen die Texte von Müttern aus mehr als sechzehn Ländern in Hamburg, die sie zu Familienfotos im Rahmen des Hamburger Projektes „Family Literacy“ für ihre Kinder geschrieben haben, die inhaltliche Fortsetzung dieser Arbeit (Rabkin).

Betrachtet man die verschiedenen Facetten und Perspektiven, die bei der Arbeit mit den Schreibanregungen sowohl auf der interpersonellen Entwicklungseben als auch auf der interpersonellen dialogischen Ebene möglich werden und entfalten, so wird die Breite des Einsatzes im Unterricht deutlich. Dies gilt sowohl für die Arbeit mit den Schreibanregungen selbst als auch für die anschließende Weiterarbeit an sich hieraus ergebenden Fragestellungen. Das Konzept findet am ehesten in einem einen handlungs- und fächerübergreifend angelegten Unterricht seinen angemessenen Platz. In einem solchen Umfeld kann sich die Wirksamkeit auch im Hinblick auf die Gesamtpersönlichkeit des Kindes im Sinne von Attitude entfalten.

Betrachtet man die verschiedenen Facetten und Perspektiven, die bei der Arbeit mit den Schreibanregungen sowohl auf der interpersonellen Entwicklungseben als auch auf der interpersonellen dialogischen Ebene möglich werden und entfalten, so wird die Breite des Einsatzes im Unterricht deutlich. Dies gilt sowohl für die Arbeit mit den Schreibanregungen selbst als auch für die anschließende Weiterarbeit an sich hieraus ergebenden Fragestellungen. Das Konzept findet am ehesten in einem einen handlungs- und fächerübergreifend angelegten Unterricht seinen angemessenen Platz. In einem solchen Umfeld kann sich die Wirksamkeit auch im Hinblick auf die Gesamtpersönlichkeit des Kindes im Sinne von Attitude entfalten.